Archive for Mai, 2012

Gebet im Alter

Zu den Menschen, die ich sehr schätze, gehört Sibilla Pelke.

Sibilla Pelke, Dipl.-Päd. Journalistin, Bildungsreferentin in Düsseldorf und Paderborn,  Lektorin für wissenschaftliche Arbeiten, Unidozentin, Autorin etlicher Sachbücher und Biografien. Vertritt  eine transkonfessionelle und interkulturelle Spiritualität. Schrieb 2008/9 für die spirituelle Zeitschrift LICHTFOKUS Kolumnen über „Die Spiritualität des Alters“ und plädiert darin für Alterslosigkeit und Langlebigkeit als Aufgabe, da wir mit 80, 90 Jahren unser volles menschliches Potential überhaupt noch nicht erreicht hätten.

Heute möchte ich einen Ihrer Texte vorstellen, ein Gebet, dass mich sehr berührt hat. Da es in sich auch das Thema der Individuation trägt, habe ich es auch auf der Webseite unseres Seminarhauses individuatio veröffentlicht.

Ich lege es allen meinen „alten“ Patienten ans Herz und denen, die auf dem Weg dorthin sind.

Hanswerner Herber

 

 

Neurose 2.0

Neurose 1.0: „Ich leide. Mach´es weg! – Neurose 2.0: „Ich leide. Sag´mir, wozu?“

Die unten aufgeführten Textpassagen habe ich zusammengestellt, für diejenigen Leidenden, die dabei sind, ihr Leiden nicht einfach abzuschütteln, wie ein lästiges Insekt, sondern…

„…es ist nicht so, dass Gott etwa den neurotischen Menschen in irgendeine Buße manövrieren will, indem er ihn mit Seelenqualen überhäuft; vielmehr ist es der Anteil, den der Mensch am Göttlichen hat, selber, der sich nicht beiseiteschieben lässt. Ein neurotischer Mensch ist einer, um den noch – oder wieder – gerungen wird, einer der nicht zu denen zählt, die sich selbst aufgaben, indem ihnen das Verdrängen ihres höheren Wesens tatsächlich gelang. Das Missgeschick des Neurotikers ist ein heilsames Missgeschick, eine Krankheit zum Leben und nicht zum Tode, während der anscheinend Gesunde, wenn seine „Gesundheit“ in der erfolgreichen Abwürgung des Menschenähnlichen besteht, mehr tot als lebendig ist.“ […]

„Niemals, in keinem Fall, ist eine Neurose heilbar durch Banalisierung des Lebens. Sie ist stets ein Bewusstwerden des Gespenstischen, das nur heilsam vorwärtsgeführt werden kann, in eine Wirklichkeit, die wertbeständig echt und weit und frei ist, die höher und nicht tiefer liegen muss als jenes Erlebnisniveau, auf dem sich der Leidende abquält.“ […]

„Der neurotische Mensch versucht zwar auszuweichen, Ersatz-Sicherungen zu finden und billiger davonzukommen; er fesselt sich in seine Zwänge, wahnhaften Rituale, Angsterlebnisse und organischen Funktionsstörungen … aber es nützt ihm nichts, denn er leidet, leidet, leidet. Er quält sich selbst – jedoch während er selber wähnt, er quäle sich hinab in den Zerfall, quält er sich in Wahrheit ins Unerträgliche. Im Unerträglichen vermag es niemand auszuhalten, also gibt es keine Sackgasse für den Neurotiker, worinnen er blind enden könnte. Unbarmherzig muss er sich weiterbohren, peinvoll und zugleich hoffnungsvoll weiter.

Man kann dem neurotischen Menschen helfen, aber man muss wissen, wohin man ihm zu helfen hat. Das methodische Wie ist nicht so wichtig, das finale Wohin entscheidet. Überlässt man ihn sich selber, so lehrt die Erfahrung, dass in den meisten Fällen Extrempunkte des Unerträglichen erreicht werden, die die Wende einleiten. Oft provoziert der Psychotherapeut – willentlich oder ahnungslos – das Erreichen solcher Extrempunkte, mindestens ebenso oft aber gelangt der Leidende von sich selbst dorthin und erlebt, dass, nach Hölderlins Wort, gerade dort, wo die Gefahr am unheimlichsten ist, das Rettende wächst.“

Herbert Fritsche, Das Wagnis Mensch zu sein

Modekrankheiten

Jede Zeit hat ihre Moden. Wieso auch nicht! Hat doch schon das Verbum in einem simplen Satz sein Tempus und seinen Modus. Stefan malt ein Bild, Stefan malte ein Bild, Stefan könnte ein Bild malen. Stefan ist Stefan und dennoch tritt er nicht nur durch das Objekt (Bild), sondern auch im zeitlichen Kontext und in der Art Weise seines Handelns unterscheidbar in Erscheinung.

„Moden“ in der Medizin treten ebenfalls abhängig vom Zeitgeist, gesellschaftlichem Wandel und Fortschritten in der Wissenschaft in Erscheinung. So gab es die Hysterie und den Wahnsinn, das Panik- und das Müdigkeits-Syndrom, Managerkrankheit und Vegetative Dystonie.

Besonders „in“ sind im Moment Traumatisierungen mit Missbrauchshintergrund,  Borderline- und Essstörungen, AD(H)S, Burnout und ja, es ist im Kommen Boreout. Wir langweilen uns zu Tode.

  • „Gesundheit ist überhaupt nicht nur ein medizinischer, sondern überwiegend ein gesellschaftlicher Begriff“, so der Philosoph Ernst Bloch.
  • „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“, so die Weltgesundheitsbehörde (WHO).
  • „Gesundheit ist ein Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums, für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben für die es sozialisiert worden ist“, so der Soziologe Talcott Parsons.
  • Gesundheit und Krankheit ergänzen sich, sie bilden ein Kontinuum. Die Positionierung auf dem Kontinuum wird primär durch das Vorhandensein bzw. das Fehlen  von physischen und psychischen Krankheiten bestimmt. Wenn sich durch die Verminderung von Risikofaktoren und die Förderung von Schutzfaktoren das Wohlbefinden des Individuums verbessert, kann sich seine Positionierung auf dem Kontinuum in Richtung Gesundheit verschieben, so der salutogenetische Ansatz von Aaron Antonovsky.

Nochmal zurück zu Ernst Bloch: „Und Gesundheit wiederherzustellen, heiße in Wahrheit: den Kranken zu jener Art von Gesundheit bringen, die in der jeweiligen Gesellschaft die jeweils anerkannte ist….Gesundheit ist in der kapitalistischen Gesellschaft Erwerbsfähigkeit; unter den Griechen war sie Genussfähigkeit, im Mittelalter Glaubensfähigkeit.“

„Wir stehen nicht vor einem Übel der üblichen Art, sondern vor der Verderbnis des Besten, die dann eintritt, wenn die Frohe Botschaft institutionalisiert wird und die Liebe verkehrt wird in den Anspruch auf Dienstleistungen“. Über diese “Medikalisierung des Lebens“  schrieb Ivan Illich 1975 in seinem Buch „Die Nemesis der Medizin“.

Die Gefahr, dass Krankheiten nicht erkannt würden und Patienten daher auch keine rechtzeitige Hilfe erhielten, führt zu einer defensiven Medizin mit übersteuerter und überteuerter Diagnostik und überflüssiger Therapie. Die entsprechenden Industrien freuen sich. Natürlich besteht auch die Gefahr durch falsch-positive Befunde aus Gesunden Kranke zu machen. Meist hilft hier die Frage: Würde ich die vorgeschlagene Diagnostik/Therapie auch den mir Liebsten zukommen lassen? Mag ja sein, dass intuitives Vorgehen als unwissenschaftlich gebrandmarkt wird, aber meist ist das Bauchgefühl sogar schneller und sicherer, fußt es doch auf dem Boden impliziten Vorwissens, heuristischer Regeln und evolvierter Fähigkeiten, wie Gerd Gigerenzer es so treffend auf den 62. Psychotherapiewochen (2012) in Lindau ausgedrückt hat.

Als junger Arzt bin ich mit Verve und Leidenschaft in die Falle des „Problemlösers“ getappt. Zu verführerisch war es für das EGO des Heilers, den enormen Erwartungen des Patienten nachzugeben und ihn mitunter willfährig aus dem Zauberkasten des Medizinbetriebs zu bedienen. Von der angebots-induzierten Nachfrage, getriggert  von den Wissen produzierenden Universitäten, der Medizintechnik und der Pharmaindustrie, will ich gar nicht reden.

Dr. med. Asklepios H. – Projektionsgestalt einer gewaltigen Heilssehnsucht mit schon quasireligiösem Anstrich. Natürlich habe ich schnell erfahren müssen, dass ich diese Erwartungen letztendlich nur enttäuschen konnte. Noch später habe ich begriffen, dass die Rolle des Problemlösers gar übergriffig ist.

Wie ich der Falle entkommen bin?

Ich kümmere mich nicht mehr um Krankheiten. Sie entfremden mir mein Gegenüber. Heute bin ich wieder da, wo ich als Famulus einst stand. Ich sehe nicht mehr die Krankheit, sondern den kranken Menschen.

Und aus der Sicht ist es mir völlig wurscht, ob es Modekrankheiten gibt oder nicht.

Hanswerner Herber