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Neuen Verunsicherungen begegnen

Die Menschen sind heute beunruhigt. Sozioökonomische und ökologische Verunsicherungen, verbunden mit einer tiefen, in vielen Lebensbereichen sich zeigenden Vertrauenskrise, schüren Ängste und das Gefühl einer größeren Verletzlichkeit. Die gefühlte Wirklichkeit: Die Welt ist ein gefährlicherer Ort geworden. In einer zunehmend enttraditionalisierten Gesellschaft sind anstelle von engen, übersichtlichen Bindungen anonyme, hochkomplexe technische und administrative Infrastrukturen getreten, die zum Teil nicht mehr verstanden werden, vor allem aber auch nicht kontrolliert werden können. Der einzelne Mensch fühlt sich ihnen gegenüber hilflos. Vertrauen wäre gefragt, aber woher nehmen? In Verbindung mit der Beschleunigung, mit der Erfahrung, dass fast nichts mehr „dauert“, wird zudem ein wesentliches Fundament des Umgangs mit Ängsten, die Bindung zum Mitmenschen, in Frage gestellt. Dennoch: trotz Vertrauenskrise, trotz wirtschaftlicher, sozialer und politischer Unübersichtlichkeit leben Menschen in einer Normalität. Noch immer sind sie der Ansicht, Leben gestalten zu können. Die Frage aus der Sicht der Psychotherapie: Wie wirken sich diese Bedrohungen auf die Innenwelt der Menschen aus, welche inneren Konflikte, welche Beziehungskonflikte werden durch die realen Bedrohungen belebt? Wie und wo zeigen sie sich? Und wie ist mit ihnen umzugehen? Sind die Ängste, die sich durch die neuen Bedrohungen zeigen, vielleicht doch auch die alten Ängste, wenn auch in neuen Gewändern, mit denen wir in der Therapie schon immer umgegangen sind? Oder geht es um gänzlich neue? Und: Können wir einen Beitrag leisten zur Frage, wie man lernen kann, mit nicht zu kontrollierenden Unsicherheiten zu leben in einer posttraditionalen Gesellschaft?

Das sind die Fragen, die die diesjährigen Lindauer Therapiewochen aufwerfen.

Die Antworten, die ich dort im Kollegenkreis gefunden habe, werden in meine Arbeit einfließen.

Lindau im April 2013
Hanswerner Herber

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