Fritsche
Neurose 2.0
Mai 26th, 2012
posted by Hanswerner Herber
Neurose 1.0: „Ich leide. Mach´es weg! – Neurose 2.0: „Ich leide. Sag´mir, wozu?“
Die unten aufgeführten Textpassagen habe ich zusammengestellt, für diejenigen Leidenden, die dabei sind, ihr Leiden nicht einfach abzuschütteln, wie ein lästiges Insekt, sondern…
„…es ist nicht so, dass Gott etwa den neurotischen Menschen in irgendeine Buße manövrieren will, indem er ihn mit Seelenqualen überhäuft; vielmehr ist es der Anteil, den der Mensch am Göttlichen hat, selber, der sich nicht beiseiteschieben lässt. Ein neurotischer Mensch ist einer, um den noch – oder wieder – gerungen wird, einer der nicht zu denen zählt, die sich selbst aufgaben, indem ihnen das Verdrängen ihres höheren Wesens tatsächlich gelang. Das Missgeschick des Neurotikers ist ein heilsames Missgeschick, eine Krankheit zum Leben und nicht zum Tode, während der anscheinend Gesunde, wenn seine „Gesundheit“ in der erfolgreichen Abwürgung des Menschenähnlichen besteht, mehr tot als lebendig ist.“ […]
„Niemals, in keinem Fall, ist eine Neurose heilbar durch Banalisierung des Lebens. Sie ist stets ein Bewusstwerden des Gespenstischen, das nur heilsam vorwärtsgeführt werden kann, in eine Wirklichkeit, die wertbeständig echt und weit und frei ist, die höher und nicht tiefer liegen muss als jenes Erlebnisniveau, auf dem sich der Leidende abquält.“ […]
„Der neurotische Mensch versucht zwar auszuweichen, Ersatz-Sicherungen zu finden und billiger davonzukommen; er fesselt sich in seine Zwänge, wahnhaften Rituale, Angsterlebnisse und organischen Funktionsstörungen … aber es nützt ihm nichts, denn er leidet, leidet, leidet. Er quält sich selbst – jedoch während er selber wähnt, er quäle sich hinab in den Zerfall, quält er sich in Wahrheit ins Unerträgliche. Im Unerträglichen vermag es niemand auszuhalten, also gibt es keine Sackgasse für den Neurotiker, worinnen er blind enden könnte. Unbarmherzig muss er sich weiterbohren, peinvoll und zugleich hoffnungsvoll weiter.
Man kann dem neurotischen Menschen helfen, aber man muss wissen, wohin man ihm zu helfen hat. Das methodische Wie ist nicht so wichtig, das finale Wohin entscheidet. Überlässt man ihn sich selber, so lehrt die Erfahrung, dass in den meisten Fällen Extrempunkte des Unerträglichen erreicht werden, die die Wende einleiten. Oft provoziert der Psychotherapeut – willentlich oder ahnungslos – das Erreichen solcher Extrempunkte, mindestens ebenso oft aber gelangt der Leidende von sich selbst dorthin und erlebt, dass, nach Hölderlins Wort, gerade dort, wo die Gefahr am unheimlichsten ist, das Rettende wächst.“