Kränkung
Gesundheiten
Februar 7th, 2015
posted by Hanswerner Herber
Ist das Gegenteil von Krankheiten „Gesundheiten“? – Im Ernst, wieso gibt es den Gegensatz nur im Singular? Krankheit – Gesundheit, klar, aber warum wird von Krankheiten, nicht aber von Gesundheiten gesprochen. Ich vermute mal, wir sind alle gesund genug, um zu erkennen, dass es eine Vielzahl unterscheidbarer Krankheiten gibt. Aber sind wir auch nur ausreichend gesund genug, um das krank machende Agens, die Kränkung, hinter der Erkrankung zu begreifen?
Die Ausdrucksformen der Kränkung – hier gibt es wieder einen Plural – die Kränkungen sind vielfältig. Aber die große Kränkung unserer Zeit liegt meines Erachtens in der industrialisierten Durchsetzung der Vorstellung von einem „guten Leben“, dem eine Auffassung vom Glück zugrunde liegt, das gemäß seinem berechenbaren Nutzen erstrebt wird. Wo bleibt da das Menschliche und das Zwischenmenschliche, wenn nur der Ökonomie des Nutzen gehuldigt wird?
Gerade auch in der Psychotherapie empfinde ich es als bedenklich, ja entwürdigend, wenn im Optimierungswahn Operationalisierung und Manualisierung, wenn Kostendämpfung, Kürzung, und eine absurde Form der Dokumentationspflicht den Therapeuten zwingen wollen aus dem Patienten, dem einzelnen, einzigartigen Menschen, ein konfektionierbares Etwas zu machen, das der Kosten-Nutzenrechnung unterliegt.
Oft sind es Jahre und Jahrzehnte, die leidvoll zu einem Muster geronnen sind. Da bedarf es Geduld beim Therapeuten und Patienten, bis sein bisher Ge- und Erduldetes kognitiv und emotional und sozial aufgearbeitet sind.
Keinesfalls jedoch braucht es des von der Gesellschaft geforderten Tempos:
· Schnelle und zügige Kurzzeittherapie – muss ja bezahlbar sein, sagen die Kassen
· Schnelle und zügige Wiederherstellung der Arbeitskraft – muss ja produziert werden, sagt der Boss
· Schnelles und zügiges Erreichen der ökonomischen Eingliederung ins Erwerbsleben – die Rente muss ja sicher sein, sagt der Staat
· Schnelles und zügiges Verbrauchen der kaputtkonstruierten Überflüssigkeiten – muss ja konsumiert werden sagt die Industrie
Ist das das gute Leben?
Schafft die ratio oeconomica die Rahmenbedingungen für das angestrebte Wachstum zum Wohl des Einzelnen oder doch nur den optimierten Menschen, der letztlich zur Implosion des Systems beiträgt?
Wir bekommen, was wir geben. Oder geben wir, was wir bekommen?